spainitalyenglishgermanyfrance

Da wird die Seele federleicht

Bei einem Meister schöner schreiben lernen – exotische Allüre wider den Cybergeist.

Basel. Schon Weihnachtsgrüsse über diese Welt gegestreut? „Trara!“, trompetet die gelbe Post, Oberkutscher Klaus Zumwinkel lässt die Werbepferdchen für „das Fest der Briefe“ trappeln: Kauft winterliche Duftaufkleber zur Zierde eurer Festtagspost! Was denn, Briefe selber schreiben? Müffelt nach Anachronismus, aber der Boss der fein gezackten Marken, Karten und Kuverts hält den fashionablen Brief ins strahlende Weihnachtslicht: „Denn wer schreibt, dem wird geschrieben.“

Klingt wie kahler Knüttelvers. „Schreibste ihm, schreibste ihr, schreibste auf MK-Papier”, so warb der Berliner Fabrikant Max Krause bis in die Fünfziger für sein Produkt. Na, dann mal her mit der holzfreien, linierten Schreibvorlage für das „Merry Christmas“ an Onkel Harold in New York. Für Tante Gertrud in Rüdesheim tut’s eine Bunte mit „Frohe Weihnacht“-Vordruck. Per Kugelschreiber „Dein Helmut“ draufgekritzelt und ab die Post! Was man so an Grüssen in der Weihnachtshektik nicht mehr schafft, das fliesst dann ins globale E-Mail-Meer.

Wie unaufmerksam, ungalant und unmodern! Der rasante Hack auf die Computertastatur ist überhaupt nicht zeitgemäss. Der moderne Mensch, vom elektronischen Schreibsklaven, von Hochgeschwindigkeitskopierer und Laserprinter unter Druck gesetzt, besinnt sich des gepflegten Briefs, den er formvollendet von eigener Hand verfasst. Der Lohn für sein unzeitliches Nachdenken, für den Einsatz edlen Schreibgeräts ist die Erfahrungswelt eines Buchstabe um Buchstabe gefüllten Blatt Papiers, sein Erstaunen darüber, dass allmählich ein Manifest für die Ewigkeit entsteht. Und die Genugtuung, Mitglied zu sein im Zirkel gehobener Lebenskultur.

Immer mehr Zeit-Genossen nehmen das Selberschreiben zum Anlass für den Zeit-Genuss. Zelebrieren die stille Kunst der schönen Feder – zurückgezogen, selbstvergessen. Entdecken ihre Gier nach Tintenblut, fühlen den mikroelektrischen Impuls, wie er aus dem Hirn über Schulter und Arm in die Mechanik der Schreibhand zuckt. Wer einmal den Extrakt der griechischen Wurzel gekostet hat, vom „kalos” also und vom „graphein”, für den wird das schöne Schreiben zum Akt der Meditation, die ihn das innerste Sein entdecken lässt.

In den USA wird die Kalligrafie zum Volkssport hochgepuscht, Ausstellungen zum Thema verursachen Warteschlangen. Auch hierzulande wächst die Zahl der Freizeitschreiber. Es scheint, dass die Uniformität unserer Schriftdokumente den Wunsch nach einer schönen Handschrift weckt, dass der Schreiber mit seinem Wesen sein will, wo die Feder ist. So hat das Bekenntnis zum eigens per Hand verfertigten Weihnachtsgruss letztlich etwas Christliches. Waren nicht auch die Mönche des Mittelalters beim Verfertigen geistlicher Schriften und Urkunden beseelt von Akribie? Schreiben nicht die Araber aus Ehrerbietung den Namen Allahs in Perfektion, verwendet nicht der Chinese ein starkes Tao-Zeichen? Darauf haben sie ein Leben lang hingearbeitet, haben ihre Seele wie Federkiel oder Bambusrohrspitze in Tinte und Tusche getunkt.

Solche Tradition hat sich einer zum Vorbild genommen, der selbst ein Meister des schönen Schreibens ist, sich vom fernöstlichen Denken aber auf neue Wege leiten liess: der Schweizer Andreas Schenk, 51, Künstler mit berufstypischem Lockenkopf. Eine Woche verbrachte er in San Francisco bei einem Zen-Buddhisten, und was übte, übte, übte er? „Den waagerechten Strich.“ Simpel genug, dass sich ihm das Bewusstsein für einfachste Details erschloss, sodass er aus der Routine gleiten konnte, befreit ins Reich der Perfektion.

Und wie seit zwanzig Jahren schon sitzt Schenk in der Baseler Altstadt, unten am Rheinsprung, in der Stube eines Fachwerkhauses von 1437 übers Pergament gebeugt und malt mit spitzer Feder und sicherem Schwung Buchstaben an Buchstaben. Der Kachelofen verströmt wohlige Wärme, den Meister umgibt inspirierender Krimskrams wie Totenschädel, Trockenblumen und ledergebundene Folianten. Auf dem soliden Holztisch die Palette seines Handwerkszeugs: Kristallgefässe mit selbst gebrauten Galläpfel- und Tintenfischtinten, dicke Pinsel, dünne Pinsel, Linierrädchen, Polierstein, Schere, Messer, Zirkel, eigenhändig zurechtgeschnittene Gänsefedern, Rohrfedern, Stahlfedern.

Lässt sich überhaupt nicht aus der monastischen Ruhe drängen, wie er gerade einen Segen bringenden Sinnspruch in Miniaturform verfertigt, das Pergament gerollt und versiegelt. Dazu ein schmucker Ring oder ein Amulett, was Schenks Ehefrau, die Goldschmiedin Margarethe Denk, zusammen in eine Kleinstschatulle appliziert. Schriftkleinodien an Edelmetall, Brief und Siegel für die Liebe – das wird Mann für 500 Fränkli seiner Teuren unters Bäumchen legen. Ein Liebesbrief per SMS? „Schauderhaft!“, stöhnt da der Meister.

Er, der einzige öffentlich bestellte Scriptor des Eidgenossenstaats, hat gut zu tun. Manchem Goldenen Buch hat Schenk kalligrafische Prägung verliehen. Der Strom der Tinte fliesst selbst bei ihm kaum über Nacht, doch eben dieser Gründlichkeit vertraut der Kunde. Der ordert Stammbaum, Heiratsanzeige, Einladung, Speisekarte, Weinetikett oder Promotionsurkunde. Schenks filigrane Kleinarbeit ist eine rare Kunst, bescheiden geht er mit den Schriften um. Sechs, sieben Typen hat er in Gebrauch, wählt sie aus nach Text-inhalt: zwei Varianten der Antiqua, die sakrale Unziale, Variationen der diszipliniert wirkenden Fraktur und als Kursivschriften sowohl die strenge römische als auch die lieblich-körpernahe Anglaise.

In Wochenendkursen trägt Schenk Schülern die Kunst des schönen Schreibens an. Zum Fundus gehört die Kenntnis von Schriftgeschichte, Werkzeug, korrekter Federführung und ermüdungsfreier Körperhaltung. Während der Gänsekiel übers Bütten kratzt, kehrt selbst bei einem Zappelphilipp meditative Ruhe ein. Nicht schlecht wären als Mitbringsel, doziert der „Kalligraph“ („Ich schreib’s nur mit ph!“) Selbstbeherrschung, das Gefühl für Präzision, für Tinte und Feder, für den Raum zwischen den Buchstaben, das Areal des Papiers. „Und Musikalität und Rhythmus braucht’s. Jede Schrift hat ihren Takt.”

Freunde, Nachbarn und Behörden werden sich wundern, wenn Schenks Schüler frische Fertigkeiten umsetzen: für die Einladung zum Neujahrsbrunch, das Kondolenzschreiben für den persischen Gemüsemann, den Einspruch gegen den Steuerbescheid. Exklusive Läden, auch das Internet, versorgen sie mit liebevoll reproduzierten Schreibaccessoires, Goldfeder, nostalgischem Tintenfässchen, Büttenpapier. Der Kalligrafie-Neuling fühlt das Glück der süssen Plage, wenn einzelne Buchstaben Gestalt gewinnen, und lässt sie doch zu langen Briefen werden: Ausdruck einer exotischen Allüre wider den Cybergeist.

Der stottert ausgerechnet durch ein kalligrafisches Internet-Gästebuch. „Mit Schönschreiben kann mann’s auch übertreiben”, steht da und „Wirklich sehr berreichernd und intressant.” Schreibt man nun Pisa mit ie? Das ist dem deutschen Schüler schnurzegal, weil die Studie mit dem schiefen Namen Orthografiekenntnisse gar nicht auf den Prüfstand stellt. Egal ist’s auch dem Gänsekiel-Enthusiasten, denn Schönschreiben, merkt der Meister der exakten Federführung an, sei doch keine deutsche Angelegenheit, odrrr? In diesem Sinne: Froes Fest!

von Hans Schiemann

Rheinischer Merkur, 16. Dezember 2004

zum nächsten Artikel >
< zum vorhergehenden Artikel